Tommy Vercetti – Seiltänzer
Verfasst von Philip Reding am Montag, 4. Oktober 2010 um 16:00
Seit dem letzten Freitag ist das Album des Jahres erhältlich. Lance und meine Wenigkeit wären für ein Review in sinnlose Begeisterungsstürme ausgebrochen weshalb wir froh sind, dass unser immer-mal-wieder-Gastautor Philip Reding (der bereits das geniale Interview mit Tommy Vercetti geführt hat), diese Aufgabe übernommen hat.
Mit naiv war die Frage noch schmeichelnd umschrieben: Anfang Januar wollte ich von Tommy wissen, ob das Album sein Leben werde, als ob jedes erste Album anders nicht sein dürfte. Als ob ein Leben ein Album, ein Album ein Leben sein könnte! Wie bedauernswert ein Leben doch sein müsste, um auf einem Album Platz zu finden; wie göttlich ein Album gemacht sein müsste, um ein Leben abzubilden. Tommy erklärte „Seiltänzer“ damals als „Querschnitt durch meinen Kopf, in diesem Moment“. Nun ist es da, und ich glaube zu verstehen, mittlerweile.
„Seiltänzer“ gewährt uns Einblicke in all die Welten, welche man von Tommy an dieser Stelle erwartet, alles andere käme einer Enttäuschung gleich. Etwa wenn der Liebe nur ein Track gewidmet oder Religion oder Medien aussen vor gelassen worden wären. Das Themenspektrum allein legitimiert Tommy Vercetti als Papagei der Szene, womit man sich die Ausgangslage für sein Debutalbum wahrlich kaum vereinfacht. Erfreulicherweise war er auch so schlau, sich die nötige Zeit dafür zu nehmen, statt während einer der zahlreichen Phasen des szenenweiten Hypes auf Teufel komm raus zu releasen.
Dieses Album wurde als Gesamtwerk komponiert, konzipiert nach Persönlichkeit: Essayistische Abhandlungen in Rapform wie „blasses Rot (Macht)“ (mit Greis im Rücken) unter Hymnen wie „la ga si (Religion)“ und Tiefenanalysen wie „Innä (allein)“, überlegt aneinander gereiht, stets verbunden in grösster Eleganz durch Intros, Outros oder Skits. Sowieso umgarnen Fabio und Onur in voller Länge, so wie man dies seit Kindheitstagen aus Walt Disney-Filmen heute nur selten noch zu hören bekommt. Besonders gut zeigt sich dies an „Hingerem Spiägu (Rollen)“, wo die fürs Album angekündigte Vielfalt gänzlich ausgekostet wird. Und wenn ich nun sicherlich nicht zu unrecht behaupte, nach mehr als zehn Jahren Musikmachen habe Tommy sein Mund- und Handwerk definitiv im Griff, dann stütze ich mich bei solchen Aussagen auf den ganzheitlichen Aspekt von „Seiltänzer“: auf massgeschneiderte Instrumentale, ein liebevoll gestaltetes Artwork in Schwarz/Silber, welches es schafft, eine eigene Interpretationsebene zu schaffen, dazu Flows von rhetorischer Stärke und eine wohlüberlegt dezidierte Feature-Auswahl, wie man sie bei den richtig Grossen im Business je länger, umso mehr schätzen lernt. Darunter, dahinter und rundherum Tommys hochkomplexe Sprachfiguren, welche alles substanziell zusammenfügen.
Womit auch schon die Grundlage zur Gränerei geschaffen, ein Anker fürs Haten gesetzt scheint: Die Empfehlung zum mehrmaligen Durchhören kennt man von schlechten Alben, wo Künstler hoffen, ihre Hörer mögen einen tieferen Sinn erkennen, wenn sie denselben Dreck nur oft genug konsumieren. Das ist hier offiziell nicht der Fall, und doch reicht es nicht aus, „Seiltänzer“ nebenbei zu hören. Dieses Album fordert seinen Tribut, es verlangt Konzentration und Zeit, duldet keine Passivität. Tracks wie „ussä (zusammen)“ (natürlich mit keinem anderen als Dezmond Dez) können sich sonst ins Unendliche ziehen und kein Ende mehr nehmen wollen zu scheinen. Was sehr schade wäre.
Was uns Tommy hier vorsetzt, verlangt nach einer bestimmten Klientel, auch wenn er selbst damit vermutlich niemanden ausgrenzen möchte: ich empfehle „Seiltänzer“ Leuten, die Tommy-Vercetti-Interviews komplett durchlesen, die sich an aufwendigen Booklets erfreuen können, die Alben fühlen, anstatt primär damit den iPod zu füllen, die „sensibu si isch gangster“ verstehen und sich damit abfinden können, dass auf die grössten Styler-Mixtapes plötzlich ein authentisches, gewachsenes Album folgt (wie man dies von CBN oder Manillio bestens kennt), die entweder „Flug zum Tod“ zuhause haben oder an den „Magnesium files“ ihr helle Freude haben, die darauf verzichten, Tommys Stimme zu haten, und sich dafür der inhaltlichen Tiefe widmen, die Schweizer Rap absolut nicht mögen müssen, aber Qualität anerkennen können sowie Leuten, die sämtliche Schnäbi-Lines mitrappen und sich dabei nur denken: „drbi het de gottverdammt Hueresohn so vil meh zsägä“!
Kommentare (9)
Kategorie: Reviews
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Comment by Lipla
Made Montag, 4 of Oktober , 2010 at 19:31
Ein deepes Album, einverstanden. Und die lyrischen Skills von Tommy sind unbestritten. Vielleicht täuscht der Eindruck, aber irgendwie kriegt man das etwas ungute Gefühl, dass hier alles etwas zu kalkuliert ist.
Revolutionsrhetorik und Sentimentalitäten mögen bei den Journis und den Kulturfunktionären mit der Lizenz zum Geldverteilen sicher gut ankommen. Aber deshalb den Schnäbiprinz beerdigen?
In gewissen Postillen wird Tommy bereits mit Kutti MC in einem Atemzug genannt. Hoffen wir mal, dass er nicht auch im Vorabendprogramm von SF und beim Bundesamt für Kultur endet…
Comment by Lance1
Made Montag, 4 of Oktober , 2010 at 21:21
Hat er den Schnäbiprinz beerdigt? Wäre er neben auf diesem Album nicht total fehl am Platz und würde es zu einem weiteren Werk machen, auf dem „für alle etwas dabei“ ist?
Gibt es irgendwo übermächtigen Pathos oder anbiedernde Themen? MMn rappt er einfach über Themen, die ihn beschäftigen. Natürlich sind die Texte komplex, aber das dürfen sie gerne wieder mal sein. Solche Instrumentals mit Oschtbärn Pussy Zigüner zu berappen, wäre schon ein arger Stilbruch.
Die Revolutionsrhetorik finde ich nicht so ausufernd wie ich sie doch erwartet hätte. Er ruft auch nicht nicht zum roten Oktober auf, sondern wettert gegen seelenlosen Konsum und rücksichtsloses Karrieredenken.
Beim Sentimentalen geb ich dir ein Stück weit recht. Aber ich finds cool ^^ MMn umschifft er aber die grossen Gefühlsriffe, ohne gross rumzujammern (wie’s viele andere bei den sog. „deepen“ Tracks tun) oder aber seine Gedanken einfach trocken runterzuleiern.
Comment by Lance1
Made Montag, 4 of Oktober , 2010 at 21:23
Und auf die Föiton-Seiten darf er noch so gerne kommen. Neben dem unlustigen pseudolyrischen Meersäuli-Endboss und Wackrapper/Kuh- und alle anderen Melker B.L.I. mal was Richtiges an Rap.
Comment by Gravity
Made Montag, 4 of Oktober , 2010 at 22:14
Also ich find’s Hammer. Man merkt das Herzblut, das in dem Album steckt. Ich würde nicht so weit gehen und Tommy unterstellen, dass er sich quasi an die Kulturfuzzis (Logos von Swisslos/Kultur Kanton Bern, KulturStadtBern) verbitcht hat. Auch wenn mir persönlich der ZüriWest-Bite etwas zu weit geht xD
Aber etwas zu meckern gibt’s immer und die Geschmäcker sind zum Glück verschieden. Solange der Schnäbiprinz immer mal wiederaufersteht, bin ich happy. Kauft das Album!
Comment by C.MCWORLD
Made Dienstag, 5 of Oktober , 2010 at 14:57
Comment by FatCap
Made Dienstag, 5 of Oktober , 2010 at 20:12
Schnäbiprinz beerdigt? Er arbeitete, wie ich las, 3 Jahre am Album. Seine eher „neueren“ Rhymes dürften sich daher auch auf EFM 3 Summernachtstroum befinden. Und niemand kann sagen, dass auf EFM 3 der Schnäbiprinz tot ist.
Album übrigens ganz gross. Als man die Tracklist las, konnte man sich auf etwas ernstes einstellen und diese Erwartungen wurden zu 100% erfüllt!
Comment by Daytripper
Made Donnerstag, 14 of Oktober , 2010 at 15:32
Ich finde genau dies die Schwierigkeit (oder das Talent), vom den „nonsens“ Schnäbiprinz und dem tiefsinnigen, sozialkritischen Tommy Vercetti Lines hin und her zu wechseln.
Das genau macht den unterschied zu anderen Rappern. Wie auch Greis (der Vergleich muss ja wohl kommen) ist Tommy einer dieser Menschen die sich mehr Gedanken machen als Andere und ihre Gedanken auch mitteilen möchten.
Sowiso gefällt mir die ganze „Eldorado FM Familie“.
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Made Freitag, 29 of Oktober , 2010 at 14:46
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